„Ich gehöre zu den Glücklichen. Was kann man über sie sagen, außer dass sie davongekommen sind?“ – Zum Werk Georges Simenons
- michelpoiccarrd
- 24. Feb.
- 6 Min. Lesezeit
Ich gestehe: selten habe ich so lange über einem Blogeintrag gebrütet, Ideen niedergeschrieben und verworfen wie bei diesem hier. Selten hat mich ein Text so genervt. Aber ich bin wiedergekommen, über die Zeit, immer wieder…
Auf Georges Simenon aufmerksam geworden, bin ich das erste Mal mit dreizehn oder vierzehn Jahren im Familienurlaub in Dänemark, als ich geplagt von Langeweile anfing, die Bücherregale unseres Ferienhauses nach Lektüre zu inspizieren.
Ein Zufall, der meine lebenslange Abhängigkeit von seinen Romanen besiegelte.
Das Buch damals war „Der kleine Heilige“: angelehnt an die Lebensgeschichte eines echten impressionistischen Malers, an dessen wahren Namen ich mich jedoch nicht mehr erinnere.
Es spielt zu großen Teilen im Paris der Jahrhundertwende und danach und ist vielleicht ein noch sanfterer und warmherzigerer Simenon als es den meisten seiner anderen Geschichten ohnehin zu eigen ist.
Simenon stellte sein Leben in die Erforschung des Menschen, er beschreibt ihn in Geschichten von Mördern, Mittellosen, Seeleuten, Ärzten oder Bankiers. Er wollte dabei stets deutlich machen, was uns alle verbindet. Er selbst fühlte sich verbunden vor allem mit den „kleinen Leuten“ - und blieb es auch nach seinem immensen finanziellen Erfolg. Als er schließlich auch noch das Abzeichen der französischen Ehrenlegion erhalten sollte, gab er es seinen Kindern zum Spielen, „damit sie lernen, es zu verachten“, so Simenon in einem späteren Tagebucheintrag.
Der deutsche Theaterkritiker Georg Hensel formulierte es einmal so: „Wer im 21. Jahrhundert erfahren will, wie im 20. Jahrhundert gelebt und gefühlt worden ist, der muss Simenon lesen. Andere Autoren mögen mehr als er wissen über die Gesellschaft. Über den einzelnen Menschen weiß keiner so viel wie er.“
Das würde ich so unterschreiben.
Simenons eigenes Leben strotzt vor Dramatik und scheint wahrscheinlich selbst als Romanstoff noch allzu ausufernd und phantastisch.
Aufgewachsen in armen Verhältnissen im einfachen Lütticher Viertel Outremeuse, stirbt früh der Vater, sodass Georges gezwungen ist, mit fünfzehn Jahren die Schule zu verlassen und fortan selbst für sich zu sorgen.
Bald arbeitet er als Reporter für die „Gazette de Liége“ und geht mit neunzehn Jahren schließlich nach Paris.
Binnen kurzer Zeit folgt sein fulminanter, auch finanzieller, Aufstieg und Georges, der seinen ersten Roman bereits mit sechzehn veröffentlichte, sieht sich folglich für den Rest seines Lebens mit dem scheinbaren Paradoxon konfrontiert, der Schöpfer internationaler Bestseller und gleichzeitig ein von der Kritik gefeierter, ernstzunehmender Romancier zu sein.
Darüber hinaus ist ein interessanter Aspekt sicher, dass er zeit seines Lebens den Wunsch hegte, mehrere Leben simultan zu leben, jedes einzelne davon jedoch „wahrhaftig“ (einem ähnlichen Gedanken entspringt vielleicht der bekannte Ausspruch Roger Willemsens: „Man kann das Leben nicht verlängern, aber wir können es verdichten“).
Simenon selbst äußert sich dazu wie folgt:
„Ich wäre gerne nicht nur ich selbst gewesen, sondern auch alle Menschen. Nur in meinen erfundenen Personen habe ich gelebt“.
Der Schriftsteller als Popstar – das ist ein Bild, das vielleicht passt. Und auch wieder nicht, da er seinen Beruf vielmehr als „Handwerk“ sah. Sicher ist, er profitierte von seinem frühen Weltruhm und gab sein Geld mit beiden Händen aus.
Immer wieder wechselte er den Wohnsitz, emigrierte von Paris in die USA und später zurück nach Europa, in die Schweiz. Er ließ sich mehrere Jahre nieder als Landwirt und züchtete aus reinem Vergnügen Wölfe, erbaute sich ein großzügiges Anwesen in Epalinges, ganz nach seinen Vorstellungen, mit eigenem Schwimmbad, das heute leer steht und ironischerweise annektiert wurde von Autonomen - wo Simenon doch selbst als Heranwachsender einmal Anarchist war.
Zu seinen Freunden zählten ebenso Charlie Chaplin wie Federico Fellini, und Carl Gustav Jung (den Simenon nie persönlich getroffen hat) war einer seiner begeisterten Leser.
Überhaupt spielt die Psychoanalyse eine entscheidende Rolle in Simenons Werk.
Freud war noch nicht ins Französische übersetzt worden, da entwarf er als Jugendlicher bereits die gesellschaftliche Funktion eines Arztes, der die Lebensgeschichte all seiner Patienten kennt und ihnen beratend zur Seite steht.
Und tatsächlich löst Kommissar Maigret vom Pariser Quai des Orfèvres - Protagonist seiner zahlreichen Kriminalromane - seine Fälle vor allem durch Menschenkenntnis und Milieuschläue.
Nach dem erwähnten Erweckungserlebnis in den Ferien setzte sich meine Begeisterung für Simenon fort, sodass ich später, während des Schuljahres 2006/2007, das für mich in erster Linie gekennzeichnet war von Abstinenz und pubertärem Hedonismus, in der Belletristikabteilung der öffentlichen Bibliothek, die meinem Gymnasium direkt gegenüberlag, Simenon-Romane beutelweise auslieh, um sie zuhause im Bett, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder (was seltener vorkam) während des Unterrichts zu verschlingen. Durch Simenon lernte ich buchstäblich nicht mehr für die Schule, sondern fürs Leben! Ich entschied mich bewusst für den Lebensentwurf, aus dem ich die maximale Erregung ziehen konnte.
Ich war fünfzehn Jahre alt und las zum ersten Mal „Es gibt noch Haselnusssträucher“.
Der darauf einsetzende Frühling vermittelte Aufbruchstimmung, und wie im Buch stellten sich auch in meinem Leben die Weichen neu.
Durch Simenon hatte ich den Eindruck, einen literarischen Schatz geborgen zu haben.
Jeder neu begonnene Roman enthielt ein Versprechen, den Zugang in ein ganzes Universum und zugleich den kleinsten Mikrokosmos verschiedenster Milieus und Gesellschaftsschichten, um dabei erzählerisch nahezu das gesamte zwanzigste Jahrhundert zu umspannen.
Sein Freund Fellini sagte es am besten so: [Seine Bücher seien] „ein Stück warmer Menschlichkeit, ein langer, fließender, wohltuender Traum, der dem Leben gleicht und uns vielleicht helfen will, das wirkliche Leben zu deuten und zu lieben.“
Ich empfand genauso. In „Die Tür“ schildert Simenon die innige Liebe zwischen der jungen Nelly und ihrem kriegsversehrten Mann Bernard, der geplagt ist von Schuldkomplexen seiner Frau gegenüber.
Die einfache wie prägnante, filmartig verwendete Sprache mit ihren schnellen Schnitten oder Überblendungen fesselte mich unverzüglich. Hinzu kamen der einzigartige, umfangreiche Wortschatz und die Genauigkeit der deutschen Übersetzung für den Diogenes-Verlag (mittlerweile erscheint Simenons Oeuvre bei „Kampa“).
Nicht unwesentlich ist für mich außerdem folgende Besonderheit: Simenons Welt ist eine streng analoge Welt. Sie ist geprägt von Innovationen wie dem Automobil, dem Radio oder dem Telefon und kennt (noch) nicht die unstete Schnelllebigkeit unserer Tage.
Vielleicht ist Simenon in dieser Hinsicht das für mich, was Oscar Wilde stets für Morrissey war: eine Leitfigur oder manchmal auch ein Komplize aus längst vergangenen Zeiten.
Scheinbar anachronistisch, jedoch zumindest für einen selbst so gegenwärtig wie sonst kaum etwas.
Obendrein erreichen seine Bücher nie einen quälenden Umfang und so sind sie meist Lesestoff für eine schlaflose Nacht und ebenso fürs ganze Leben.
Oft beschreibt Simenon seine Figuren an einem Scheideweg. Sie wachsen entweder über sich hinaus oder scheitern so gewaltig, dass es einem noch lange nach der Lektüre nachhängt.
Dies liegt vor allem an der psychologischen Präzision, mit der er beobachtet – ohne dabei jemals auch nur den Hauch eines Zweifels zu lassen, dass er über sie urteilen könnte.
Es geht die Legende, Simenons Kurzgeschichten, die er kurz nach seiner Ankunft in Paris den örtlichen Zeitungen feilbot, seien zunächst von der immer selben Angestellten abgelehnt worden mit der Begründung, seine Sprache sei „zu literarisch“.
Er arbeitete sich infolgedessen an jenen Zurückweisungen ab und schreibt ihr einen Großteil an seinem späteren Schreibstil und dem mit ihm verbundenen Erfolg zu.
Doch dieser offenbare Erfolg ist nicht alles für Simenon. Im Interview-Band „auf der Couch“ äußert er sich wie folgt:
„Erfolg bedeutet nicht Glück, er ist eher eine Gefahr. Ich bin immer wieder gefragt worden, ob es denn nicht toll sei, Erfolg zu haben; darauf habe ich geantwortet, dass ich noch keinen Erfolg hatte, zumindest nicht mir selbst gegenüber, in den Dingen, die ich mir zum Ziel gesetzt habe. Anstatt Freude und Befriedigung bringt der Erfolg nur noch mehr Unruhe, denn das gesteckte Ziel verschwindet mit dem Erfolg, und man hat das Gefühl einer großen Leere. Das Entscheidende, das Anregende, das Begeisternde ist nicht, ein Ziel zu erreichen, sondern nach einem Ziel zu streben.“
Ein scheinbarer Widerspruch zu seinem enormen Vermögen ist außerdem sein immerwährender Freiheitsdrang:
„Das Clochardleben war immer eine Versuchung für mich; seit meiner Jugend bekämpfe ich diesen Sog in mir! Meine erste Ehe: ein Schutzwall gegen Unordnung und Anarchie! Eigentlich komme ich öfter in Versuchung, den Traum von Freiheit zu verwirklichen: Ich möchte alles weggeben, was ich besitze; ich wäre bestimmt nicht unglücklicher, wenn ich mich ohne einen Sou in der Tasche auf der Place Saint-François in Lausanne herumtreiben würde. Aber meinen Kindern gegenüber habe ich natürlich kein Recht dazu.“
Einige Jahre gingen ins Land seit dem erwähnten Urlaub in Dänemark. Losgekommen bin ich in der Zeit von Simenons Büchern nicht. Es gibt eine eiserne Reserve seiner Romane – besonders der „Non-Maigrets“ – die ich immer wieder lese.
Ich gestehe außerdem, dass ich bei 193 Romanen sowie 167 Erzählungen Simenons (unter Pseudonym Veröffentlichtes nicht eingerechnet) sein Werk höchstens gestreift habe.
Welch glückliche Fügung, dass Deutsch denn auch die Sprache ist, in die er am meisten übersetzt wurde und ich nicht angewiesen bin auf die spärlichen Brocken Französisch, die meinem Gedächtnis nach der Schule erhalten geblieben sind.
Wie eingangs erwähnt, saß ich recht lang an diesem Artikel, der mir eine Herzensangelegenheit ist.
Entsprechend habe ich lang überlegt, wie ich ihn schließen sollte und mich nun entschieden für eine Liste mit Literatur* als Einstieg für künftige Simenon-Leser und -Liebhaber:
„Die Tür“
„Es gibt noch Haselnusssträucher“
„Das blaue Zimmer“
„Der kleine Heilige“
„Die verschwundene Tochter“
„Die Glocken von Bicêtre“
„Maigret zögert“
„Die Marie vom Hafen“
*Ich bitte, die Neuübersetzungen von „Kampa“ zu meiden und stattdessen am besten antiquarisch auf die frühen Ausgaben des Diogenes-Verlages zurückzugreifen
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