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Aktualisiert: 9. Okt. 2024

Vor vielen Jahren hatte ich ein Erweckungserlebnis.

Streng genommen war es zunächst rein popkultureller Natur, aber später entpuppte es sich als so viel mehr.

Wir reden vom Jahr 2009. Es war der Beginn einer Serie vieler unschöner Ereignisse und er trat zuerst in Form einer ernsthaften psychischen Erkrankung in mein Leben.

Damals verbrachte ich mehr als die Hälfte des Jahres auf der geschlossenen Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie eines großen Berliner Krankenhauses.

Ich fühlte mich oft viel zu alt (manche Mitpatienten waren erst Dreizehn) und war gezwungen, auch meine Volljährigkeit auf der Station zu feiern (die aufmerksamen Pfleger schenkten mir ein Deo und ein „2-in-1“-Duschgel).

Die wenigen Möglichkeiten, dem tristen Klinikalltag zu entfliehen, bestanden in erster Linie darin, sich in der nahen öffentlichen Bibliothek mit DVDs mit verheißungsvollen Titeln oder Covern einzudecken und diese am frühen Abend mit dem (während der Zeit ständig wechselnden) Zimmerpartner auf dem Laptop anzuschauen.

Eines Abends kramte ich den Film „Jim Carroll – In den Straßen von New York“ aus dem mit der Ausbeute eines erfolgreichen Bibliotheksnachmittags gefüllten Rucksack heraus.

Er war mir aufgefallen, weil mich vom Cover der junge Leonardo DiCaprio (noch vor „Titanic“!) in einer Pose angriente, die wohl irgendwie tough wirken sollte.

Der Film ist das Biopic eines strauchelnden, lebenshungrigen Teenagers, der früh dem Heroin verfällt und sich so um eine Profikarriere in der amerikanischen Basketballliga bringt.

Ihm zugrunde liegt wiederum Carrolls Tagebuch, das schlicht den Titel „The Basketball Diaries“ trägt (wie auch der Film im englischen Original).

Mit dem Unterschied, dass Carrolls Tagebuch ein Jahrzehnt früher angesiedelt ist, entspricht es in vielem doch dem U.S.-amerikanischen Äquivalent zu Christiane F.s Bericht „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, den ich in einem vorherigen Post auf diesem Blog ebenfalls erwähnte.

 

Carroll wächst in einfachen Verhältnissen an der Lower East Side in Manhattan auf.

Seine guten Noten ermöglichen es ihm, mit Fünfzehn nicht mehr in Harlem zur Schule gehen zu müssen und fortan die elitäre „Trinity School“ im Westen des Bezirks zu besuchen.

Die konservativen, religiös-regressiven Strukturen der neuen Schule, die in krassem Gegensatz zu Carrolls Herkunft stehen, besingt er später unter anderem im Song „Catholic Boy“ seiner 1980 gegründeten Band.

 

Carrolls Aufzeichnungen gleichen bereits in vielem dem Drehbuch eines absurden Kinofilms, sind, etwas vereinfacht, jedoch schnell erzählt:

Die Weichen für ein bürgerliches, besseres Leben als das seiner Eltern oder sogar einer verheißungsvollen Sportlerkarriere sind durch das Schulstipendium früh gestellt, Carroll aber biegt kurz vorm Ziel ab, um mit seiner Clique bei Raubüberfällen alte Damen um ihre Handtaschen zu bringen, sich mit gegnerischen High-School-Basketball-Mannschaften zu prügeln, nachdem sie erst in der Umkleide von seinen Freunden beklaut wurden, und immer öfter auch, um sich dem Heroin hinzugeben, das er das erste Mal sogar noch vor seiner Zeit im „Trinity“, mit Dreizehn, probierte.

Um seine Sucht zu finanzieren, beginnt er sich in öffentlichen Toiletten berüchtigter New Yorker U-Bahnstationen zu prostituieren.

Basketball bleibt während dieser Zeit seines fortdauernden Abstiegs seine Leidenschaft.

Irgendwann spielt er nicht mehr bei Schulmeisterschaften, ist jedoch weiter regelmäßig auf öffentlichen Sportplätzen anzutreffen.

Während dieser Zeit schreibt Carroll nicht nur weiter ambitioniert Tagebuch, sondern bekommt mit dem Entdecken von Rainer Maria Rilke und Allen Ginsberg auch erstmals Anstöße und Einflüsse, eigene Lyrik zu verfassen.

Der Film schließt dann auch mit einer Sequenz, die Jim Carroll als jungen Mann bei einer Lesung auf einer Theaterbühne zeigt, nachdem er im New Yorker Gefängnis „Riker’s Island“ einen kalten Entzug gemacht hatte. 

Die Freunde von damals: tot oder auf dem nächsten Weg dorthin, manche ebenfalls im Knast.

 

Noch spannender wurden für mich, je älter ich wurde, die autofiktionalen Tagebucheinträge, die Carroll in seinen Zwanzigern als Teil der New Yorker Avantgarde und Kunstszene verfasste und später unter dem Titel „Forced Entries“ veröffentlichte.

Gespickt mit Gastauftritten von Bob Dylan bis Patti Smith und voller Selbstironie (vor allem, was seinen weiteren Umgang mit harten Drogen anbelangt), fasziniert mich das Buch bis heute.    

Erschienen ist es beim renommierten amerikanischen „Penguin“-Verlag, wie auch der wegweisende Lyrikband „Living At The Movies“.

Ins Deutsche gebracht wurde Carrolls Lyrik hauptsächlich von „Tropen“-Verlagsgründer Michael Zöllner persönlich, unter dem Titel „Kleine New Yorker Oden“, die deutsche Übersetzung dem Amerikanischen stets diametral gegenübergestellt.

 

Eine meiner Lieblingsepisoden aus „Forced Entries” ist wahrscheinlich „A Day At The Races”.

Carrolls damalige Gespielin Jenny Ann kreuzt eines Morgens mit einem Glas voll Filzläuse, die sie den Abend vorher bei sich entdeckt hatte, in seiner Wohnung auf.

Sie fordert ihn auf, sich umgehend seiner Hose zu entledigen, um seinen Schambereich nach weiteren Parasiten abzusuchen.

Ein paar der Tierchen machen noch einen vitalen Eindruck und sie bittet ihn, ein solches auszuwählen, um ein Rennen zu veranstalten.

Schnell ist ein Blatt Papier aus Jennys Künstlerinnen-Portfolio gefunden und mit einem Stift eine Linie gezeichnet.

Ihre Filzlaus braucht bloß dreiundzwanzig Sekunden von einer zur anderen Seite, seine fällt mitten im Rennen vom Rand.

 

Wem derlei Albernheiten imponieren, sei „Forced Entries“ ans Herz gelegt. Den seriöseren oder schlicht an mehr „Drama“ interessierten Lesern empfehle ich eher „The Basketball Diaries“.

Bedauerlicherweise starb Jim Carroll im September desselben Jahres, in dem er erstmals in mein Leben trat.

Seine Geschichten aber haben über all die Jahre wenig an Aktualität verloren.

Beide Tagebuchbände lassen sich als Taschenbücher problemlos über den deutschen Buchhandel beziehen. Der Weg über den antiquarischen Büchermarkt sollte nicht nötig sein.

 
 
 
  • 16. Apr. 2024
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 7. Juli 2024

1997 – Das ist das Jahr, in dem die wenigen Kindheitserinnerungen, die ich noch besitze, ihren Anfang haben.

Speziell erinnere ich mich an unseren jährlichen Sommerurlaub.

Zwei Wochen Türkei in einem Clubhotel mit Halbpension im Küstenort Alanya.

Ich war damals sechs Jahre alt, mein älterer und einziger Bruder zehn.

 

Am Reiseziel angekommen, machten wir damals öfter Ausflüge – im Reisebus mit anderen Gästen des Hotels oder ganz privat per Taxi, wobei wir in letzteren oft antike griechische Ruinen passierten, die sogenannten „Tümpel“, wie ich mit meinen sechs Jahren sicher zu wissen glaubte. 

Gegen die Hitze gab es den süßen, lauwarmen türkischen Apfeltee, den wir später im Berliner Einzelhandel vergeblich suchten.

Einmal machten wir eine größere Exkursion zu einer alten Burg.

Der Weg war steil, aber oben angekommen, wurde man belohnt mit einem fantastischen Blick auf die Stadt.

Ich durfte ein paar Fotos mit dem schwarzen analogen Fotoapparat machen, den wir uns alle als Familie teilten.

Die Zikaden, die das nicht zu überhörende, beständige Zirpen verursachten, in den Bäumen oder Büschen auszumachen, gelang mir indes nicht, obwohl ich mich redlich bemühte.

 

In der Mittagshitze blieben wir fast immer in unserem Häuschen auf der Hotelanlage, das glücklicherweise über eine Klimaanlage verfügte - den Morgen und Nachmittag hingegen verbrachten wir am Strand.

Dort gab es weiße Plastikliegen, überspannt von Sonnensegeln.

Wenn wir nicht badeten, beschäftigten wir uns mit magnetischen Reisebrett- bzw. Kartenspielen oder unsere Mutter las uns vor aus einem Taschenbuch, das sich „Der Geizhals“ nannte, und in dem minutiös erklärt wurde, wie sich im Alltag am besten Geld sparen ließ. Nicht, dass wir darauf angewiesen gewesen wären, aber die Tricks und Kniffe verblüfften uns und vertrieben die Zeit.

 

In dieses Idyll mischen sich jedoch auch schmerzliche und bittere Erfahrungen.

Mein Lieblingslied war damals „In the army now“ von „Status Quo“.

Es war mein erstes Lieblingslied überhaupt und begleitete mich stets als Ohrwurm.

Den Text verstand ich nicht, ich sprach kein Englisch.

Aber die Stimmung, die sich sofort übertrug, hatte etwas von Schwermut.

Ich weiß, wie ich mich eines Tages selbstständig von unserem „Lager“ immer weiter entfernte und mir mit einigem Abstand einen anderen Platz am Strand suchte, wo ich verharrte.

Im Kopf immer noch die Melodie des besagten Liedes.

Ich wünschte mich weg. Von der Familie. Von den Eltern, durch die ich mich sicher auf irgendeine Weise vor den Kopf gestoßen oder ungerecht behandelt gefühlt haben muss.

Und zum ersten Mal auch aus dem Leben.

Dies war der Beginn von Suizidgedanken, die mich bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr begleiten sollten. 

Als sie verschwanden, hinterließen sie paradoxerweise eine große Leere.

Ich tauschte gleichsam ein gelebtes Leben mit all seinen Freuden und zwangsläufigen Enttäuschungen gegen den bloßen Wunsch am Leben zu bleiben.

 

Was mich mit „Depeche Mode“ und speziell ihrem Sänger Dave Gahan stets verbunden hat, ist vermutlich die Leidenschaft. Die Hingabe einem ganz bestimmten Thema gegenüber, von dem man in manchen Momenten glaubt, sich ihm für den Rest seines Lebens verschrieben zu haben. In unserem Falle der Musik.

Darüber hinaus lassen sich noch andere Aspekte finden. Das Okkulte vielleicht, das „Depeche Mode“ besingen in Songs wie „Blasphemous rumors“, und das im Laufe der Zeit zu einem Erkennungsmerkmal nicht nur ihrer Musik, sondern auch unter Fans geworden ist.

Nicht gerade zufällig trägt eines ihrer besten Alben den Titel „Black Celebration“.

Dann umgab die Band noch das Image eines gewissen Außenseitertums, das mich allein eine Form der Verbundenheit fühlen ließ und dessen sie sich nicht etwa still entledigten, sondern es geradezu stolz auch nach ihrem kommerziellen Erfolg vor sich hertrugen.

 

Als sie 1981 nach einem ihrer ersten Konzerte von Daniel Miller, dem Chef von „Mute Records“, unter Vertrag genommen wurden, war Gahan gerade neunzehn Jahre alt und wirkte mitunter immer noch etwas milchbubenhaft, obwohl er bereits einiges auf dem Kerbholz hatte und über eine kriminelle Vergangenheit, inklusive Autodiebstahls und einem Aufenthalt im Jugendgefängnis, verfügte.

Aber kommen wir zurück auf das Jahr 1997.

Es ist auch das Jahr, in dem Dave Gahan ein Video-Interview gibt, das ebenso intim wie hoffnungsvoll anmutet, zumindest sofern man etwas tiefer mit der Vita des Musikers vertraut ist.

Alkoholgelage und Fälle von Drogenmissbrauch - zumeist Heroin - standen jahrelang auf der Tagesordnung.

Dann, 1996, der Tiefpunkt.

Nach einer Überdosis Heroin kommt es zum Herzstillstand und Dave Gahan vom Krankenhaus direkt ins Gefängnis wegen Drogenbesitzes.

Bei seiner Haftentlassung erwarten ihn bereits Fernsehteams und Paparazzi.

Sein Kommentar, sich seiner Verantwortung als Vorbild für abertausende Heranwachsende offenbar wieder bewusst: „I just wanna say sorry to the fans and stuff. I’m glad I’m still alive. It’s not cool to be an addict.“

Danach dann ein weiterer Drogenentzug. Der letzte.

 

Das Interview, das einige Zeit nach diesen Zwischenfällen stattfinden wird, ist auf YouTube zu finden.

Zu sehen ist ein entspannter Gahan in schwarzem Hemd vor einem Kamin sitzend.

Die Einrichtung im Hintergrund des Zimmers erinnert tatsächlich etwas an die unseres Hotels in der Türkei.

Er spricht ruhig und konzentriert.

Über die letzte Zeit, die sicher keine leichte für ihn gewesen sein wird. Über seinen Weg – so theatralisch das klingen mag – zurück ins Leben.

Vom Zeitpunkt des Interviews ausgehend vor einem Jahr sei die Band bereits zur Hälfte fertig gewesen mit dem neuen Album.

„Und dann passierte das alles. Ich fand mich plötzlich wieder im Gefängnis und dann in einer Entzugsklinik“.

Und weiter: „Von da an bis jetzt war es ein ziemlicher Trip.“

Ein wahrhaft erstaunlicher Weg, den er rückblickend selbst noch nicht ganz zu begreifen scheint.

Schließlich kommt das Thema des Interviews für den etwas abergläubischen Gahan noch einmal auf das neue Album.

Bei „Ultra“ ginge es sowohl rein musikalisch als auch in den Songtexten um das Schicksal und das sei ohnehin für jedermann festgelegt. Songwriter und Keyboarder Martin Gore glaube das im Übrigen auch.

Nun, da das Album fertig sei, wolle er erst einmal zurück nach New York.

Er freue sich nach Hause zu kommen, Zeit mit Freunden zu verbringen und „einfach zu ‚sein‘“.

Und man ist kurz versucht an Kalendersprüche á la „Es sind die einfachen Dinge im Leben...“ zu denken und ihnen nicht weiter die Sinnhaftigkeit abzusprechen.

 

Zwölf Jahre nach diesem Interview, im Jahr 2009, geht es mir schlecht, ich bin mit achtzehn Jahren selbst psychisch erkrankt.

Zukunftsprognose: ungewiss.

Noch in der Klinik tausche ich Musik mit manchen Pflegern.

Auf einem der USB-Sticks stoße ich auf einmal auf „Black Celebration“, das Depeche-Mode-Album, das einst mit dreizehn meinen Einstieg in ihre Diskographie markierte.

Auch die nächsten Jahre wird mich ihre Musik begleiten.

2013 gehe ich sogar auf eines ihrer Konzerte im Berliner Olympiastadion.

Denke ich an Gahan, so denke ich ans Leben.

Irgendwann kam dann auch noch der Krebs für ihn dazu.

Auch ihn besiegte er souverän.

Und mich beschleicht das Gefühl, dass uns heute mehr verbindet als bloß die Musik.




 
 
 

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