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Jim Carroll – der heroinsüchtige Poet von der Lower East Side

  • michelpoiccarrd
  • 16. Aug. 2024
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 9. Okt. 2024

Vor vielen Jahren hatte ich ein Erweckungserlebnis.

Streng genommen war es zunächst rein popkultureller Natur, aber später entpuppte es sich als so viel mehr.

Wir reden vom Jahr 2009. Es war der Beginn einer Serie vieler unschöner Ereignisse und er trat zuerst in Form einer ernsthaften psychischen Erkrankung in mein Leben.

Damals verbrachte ich mehr als die Hälfte des Jahres auf der geschlossenen Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie eines großen Berliner Krankenhauses.

Ich fühlte mich oft viel zu alt (manche Mitpatienten waren erst Dreizehn) und war gezwungen, auch meine Volljährigkeit auf der Station zu feiern (die aufmerksamen Pfleger schenkten mir ein Deo und ein „2-in-1“-Duschgel).

Die wenigen Möglichkeiten, dem tristen Klinikalltag zu entfliehen, bestanden in erster Linie darin, sich in der nahen öffentlichen Bibliothek mit DVDs mit verheißungsvollen Titeln oder Covern einzudecken und diese am frühen Abend mit dem (während der Zeit ständig wechselnden) Zimmerpartner auf dem Laptop anzuschauen.

Eines Abends kramte ich den Film „Jim Carroll – In den Straßen von New York“ aus dem mit der Ausbeute eines erfolgreichen Bibliotheksnachmittags gefüllten Rucksack heraus.

Er war mir aufgefallen, weil mich vom Cover der junge Leonardo DiCaprio (noch vor „Titanic“!) in einer Pose angriente, die wohl irgendwie tough wirken sollte.

Der Film ist das Biopic eines strauchelnden, lebenshungrigen Teenagers, der früh dem Heroin verfällt und sich so um eine Profikarriere in der amerikanischen Basketballliga bringt.

Ihm zugrunde liegt wiederum Carrolls Tagebuch, das schlicht den Titel „The Basketball Diaries“ trägt (wie auch der Film im englischen Original).

Mit dem Unterschied, dass Carrolls Tagebuch ein Jahrzehnt früher angesiedelt ist, entspricht es in vielem doch dem U.S.-amerikanischen Äquivalent zu Christiane F.s Bericht „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, den ich in einem vorherigen Post auf diesem Blog ebenfalls erwähnte.

 

Carroll wächst in einfachen Verhältnissen an der Lower East Side in Manhattan auf.

Seine guten Noten ermöglichen es ihm, mit Fünfzehn nicht mehr in Harlem zur Schule gehen zu müssen und fortan die elitäre „Trinity School“ im Westen des Bezirks zu besuchen.

Die konservativen, religiös-regressiven Strukturen der neuen Schule, die in krassem Gegensatz zu Carrolls Herkunft stehen, besingt er später unter anderem im Song „Catholic Boy“ seiner 1980 gegründeten Band.

 

Carrolls Aufzeichnungen gleichen bereits in vielem dem Drehbuch eines absurden Kinofilms, sind, etwas vereinfacht, jedoch schnell erzählt:

Die Weichen für ein bürgerliches, besseres Leben als das seiner Eltern oder sogar einer verheißungsvollen Sportlerkarriere sind durch das Schulstipendium früh gestellt, Carroll aber biegt kurz vorm Ziel ab, um mit seiner Clique bei Raubüberfällen alte Damen um ihre Handtaschen zu bringen, sich mit gegnerischen High-School-Basketball-Mannschaften zu prügeln, nachdem sie erst in der Umkleide von seinen Freunden beklaut wurden, und immer öfter auch, um sich dem Heroin hinzugeben, das er das erste Mal sogar noch vor seiner Zeit im „Trinity“, mit Dreizehn, probierte.

Um seine Sucht zu finanzieren, beginnt er sich in öffentlichen Toiletten berüchtigter New Yorker U-Bahnstationen zu prostituieren.

Basketball bleibt während dieser Zeit seines fortdauernden Abstiegs seine Leidenschaft.

Irgendwann spielt er nicht mehr bei Schulmeisterschaften, ist jedoch weiter regelmäßig auf öffentlichen Sportplätzen anzutreffen.

Während dieser Zeit schreibt Carroll nicht nur weiter ambitioniert Tagebuch, sondern bekommt mit dem Entdecken von Rainer Maria Rilke und Allen Ginsberg auch erstmals Anstöße und Einflüsse, eigene Lyrik zu verfassen.

Der Film schließt dann auch mit einer Sequenz, die Jim Carroll als jungen Mann bei einer Lesung auf einer Theaterbühne zeigt, nachdem er im New Yorker Gefängnis „Riker’s Island“ einen kalten Entzug gemacht hatte. 

Die Freunde von damals: tot oder auf dem nächsten Weg dorthin, manche ebenfalls im Knast.

 

Noch spannender wurden für mich, je älter ich wurde, die autofiktionalen Tagebucheinträge, die Carroll in seinen Zwanzigern als Teil der New Yorker Avantgarde und Kunstszene verfasste und später unter dem Titel „Forced Entries“ veröffentlichte.

Gespickt mit Gastauftritten von Bob Dylan bis Patti Smith und voller Selbstironie (vor allem, was seinen weiteren Umgang mit harten Drogen anbelangt), fasziniert mich das Buch bis heute.    

Erschienen ist es beim renommierten amerikanischen „Penguin“-Verlag, wie auch der wegweisende Lyrikband „Living At The Movies“.

Ins Deutsche gebracht wurde Carrolls Lyrik hauptsächlich von „Tropen“-Verlagsgründer Michael Zöllner persönlich, unter dem Titel „Kleine New Yorker Oden“, die deutsche Übersetzung dem Amerikanischen stets diametral gegenübergestellt.

 

Eine meiner Lieblingsepisoden aus „Forced Entries” ist wahrscheinlich „A Day At The Races”.

Carrolls damalige Gespielin Jenny Ann kreuzt eines Morgens mit einem Glas voll Filzläuse, die sie den Abend vorher bei sich entdeckt hatte, in seiner Wohnung auf.

Sie fordert ihn auf, sich umgehend seiner Hose zu entledigen, um seinen Schambereich nach weiteren Parasiten abzusuchen.

Ein paar der Tierchen machen noch einen vitalen Eindruck und sie bittet ihn, ein solches auszuwählen, um ein Rennen zu veranstalten.

Schnell ist ein Blatt Papier aus Jennys Künstlerinnen-Portfolio gefunden und mit einem Stift eine Linie gezeichnet.

Ihre Filzlaus braucht bloß dreiundzwanzig Sekunden von einer zur anderen Seite, seine fällt mitten im Rennen vom Rand.

 

Wem derlei Albernheiten imponieren, sei „Forced Entries“ ans Herz gelegt. Den seriöseren oder schlicht an mehr „Drama“ interessierten Lesern empfehle ich eher „The Basketball Diaries“.

Bedauerlicherweise starb Jim Carroll im September desselben Jahres, in dem er erstmals in mein Leben trat.

Seine Geschichten aber haben über all die Jahre wenig an Aktualität verloren.

Beide Tagebuchbände lassen sich als Taschenbücher problemlos über den deutschen Buchhandel beziehen. Der Weg über den antiquarischen Büchermarkt sollte nicht nötig sein.

 
 
 

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