top of page
  • 16. Apr. 2024
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 7. Juli 2024

1997 – Das ist das Jahr, in dem die wenigen Kindheitserinnerungen, die ich noch besitze, ihren Anfang haben.

Speziell erinnere ich mich an unseren jährlichen Sommerurlaub.

Zwei Wochen Türkei in einem Clubhotel mit Halbpension im Küstenort Alanya.

Ich war damals sechs Jahre alt, mein älterer und einziger Bruder zehn.

 

Am Reiseziel angekommen, machten wir damals öfter Ausflüge – im Reisebus mit anderen Gästen des Hotels oder ganz privat per Taxi, wobei wir in letzteren oft antike griechische Ruinen passierten, die sogenannten „Tümpel“, wie ich mit meinen sechs Jahren sicher zu wissen glaubte. 

Gegen die Hitze gab es den süßen, lauwarmen türkischen Apfeltee, den wir später im Berliner Einzelhandel vergeblich suchten.

Einmal machten wir eine größere Exkursion zu einer alten Burg.

Der Weg war steil, aber oben angekommen, wurde man belohnt mit einem fantastischen Blick auf die Stadt.

Ich durfte ein paar Fotos mit dem schwarzen analogen Fotoapparat machen, den wir uns alle als Familie teilten.

Die Zikaden, die das nicht zu überhörende, beständige Zirpen verursachten, in den Bäumen oder Büschen auszumachen, gelang mir indes nicht, obwohl ich mich redlich bemühte.

 

In der Mittagshitze blieben wir fast immer in unserem Häuschen auf der Hotelanlage, das glücklicherweise über eine Klimaanlage verfügte - den Morgen und Nachmittag hingegen verbrachten wir am Strand.

Dort gab es weiße Plastikliegen, überspannt von Sonnensegeln.

Wenn wir nicht badeten, beschäftigten wir uns mit magnetischen Reisebrett- bzw. Kartenspielen oder unsere Mutter las uns vor aus einem Taschenbuch, das sich „Der Geizhals“ nannte, und in dem minutiös erklärt wurde, wie sich im Alltag am besten Geld sparen ließ. Nicht, dass wir darauf angewiesen gewesen wären, aber die Tricks und Kniffe verblüfften uns und vertrieben die Zeit.

 

In dieses Idyll mischen sich jedoch auch schmerzliche und bittere Erfahrungen.

Mein Lieblingslied war damals „In the army now“ von „Status Quo“.

Es war mein erstes Lieblingslied überhaupt und begleitete mich stets als Ohrwurm.

Den Text verstand ich nicht, ich sprach kein Englisch.

Aber die Stimmung, die sich sofort übertrug, hatte etwas von Schwermut.

Ich weiß, wie ich mich eines Tages selbstständig von unserem „Lager“ immer weiter entfernte und mir mit einigem Abstand einen anderen Platz am Strand suchte, wo ich verharrte.

Im Kopf immer noch die Melodie des besagten Liedes.

Ich wünschte mich weg. Von der Familie. Von den Eltern, durch die ich mich sicher auf irgendeine Weise vor den Kopf gestoßen oder ungerecht behandelt gefühlt haben muss.

Und zum ersten Mal auch aus dem Leben.

Dies war der Beginn von Suizidgedanken, die mich bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr begleiten sollten. 

Als sie verschwanden, hinterließen sie paradoxerweise eine große Leere.

Ich tauschte gleichsam ein gelebtes Leben mit all seinen Freuden und zwangsläufigen Enttäuschungen gegen den bloßen Wunsch am Leben zu bleiben.

 

Was mich mit „Depeche Mode“ und speziell ihrem Sänger Dave Gahan stets verbunden hat, ist vermutlich die Leidenschaft. Die Hingabe einem ganz bestimmten Thema gegenüber, von dem man in manchen Momenten glaubt, sich ihm für den Rest seines Lebens verschrieben zu haben. In unserem Falle der Musik.

Darüber hinaus lassen sich noch andere Aspekte finden. Das Okkulte vielleicht, das „Depeche Mode“ besingen in Songs wie „Blasphemous rumors“, und das im Laufe der Zeit zu einem Erkennungsmerkmal nicht nur ihrer Musik, sondern auch unter Fans geworden ist.

Nicht gerade zufällig trägt eines ihrer besten Alben den Titel „Black Celebration“.

Dann umgab die Band noch das Image eines gewissen Außenseitertums, das mich allein eine Form der Verbundenheit fühlen ließ und dessen sie sich nicht etwa still entledigten, sondern es geradezu stolz auch nach ihrem kommerziellen Erfolg vor sich hertrugen.

 

Als sie 1981 nach einem ihrer ersten Konzerte von Daniel Miller, dem Chef von „Mute Records“, unter Vertrag genommen wurden, war Gahan gerade neunzehn Jahre alt und wirkte mitunter immer noch etwas milchbubenhaft, obwohl er bereits einiges auf dem Kerbholz hatte und über eine kriminelle Vergangenheit, inklusive Autodiebstahls und einem Aufenthalt im Jugendgefängnis, verfügte.

Aber kommen wir zurück auf das Jahr 1997.

Es ist auch das Jahr, in dem Dave Gahan ein Video-Interview gibt, das ebenso intim wie hoffnungsvoll anmutet, zumindest sofern man etwas tiefer mit der Vita des Musikers vertraut ist.

Alkoholgelage und Fälle von Drogenmissbrauch - zumeist Heroin - standen jahrelang auf der Tagesordnung.

Dann, 1996, der Tiefpunkt.

Nach einer Überdosis Heroin kommt es zum Herzstillstand und Dave Gahan vom Krankenhaus direkt ins Gefängnis wegen Drogenbesitzes.

Bei seiner Haftentlassung erwarten ihn bereits Fernsehteams und Paparazzi.

Sein Kommentar, sich seiner Verantwortung als Vorbild für abertausende Heranwachsende offenbar wieder bewusst: „I just wanna say sorry to the fans and stuff. I’m glad I’m still alive. It’s not cool to be an addict.“

Danach dann ein weiterer Drogenentzug. Der letzte.

 

Das Interview, das einige Zeit nach diesen Zwischenfällen stattfinden wird, ist auf YouTube zu finden.

Zu sehen ist ein entspannter Gahan in schwarzem Hemd vor einem Kamin sitzend.

Die Einrichtung im Hintergrund des Zimmers erinnert tatsächlich etwas an die unseres Hotels in der Türkei.

Er spricht ruhig und konzentriert.

Über die letzte Zeit, die sicher keine leichte für ihn gewesen sein wird. Über seinen Weg – so theatralisch das klingen mag – zurück ins Leben.

Vom Zeitpunkt des Interviews ausgehend vor einem Jahr sei die Band bereits zur Hälfte fertig gewesen mit dem neuen Album.

„Und dann passierte das alles. Ich fand mich plötzlich wieder im Gefängnis und dann in einer Entzugsklinik“.

Und weiter: „Von da an bis jetzt war es ein ziemlicher Trip.“

Ein wahrhaft erstaunlicher Weg, den er rückblickend selbst noch nicht ganz zu begreifen scheint.

Schließlich kommt das Thema des Interviews für den etwas abergläubischen Gahan noch einmal auf das neue Album.

Bei „Ultra“ ginge es sowohl rein musikalisch als auch in den Songtexten um das Schicksal und das sei ohnehin für jedermann festgelegt. Songwriter und Keyboarder Martin Gore glaube das im Übrigen auch.

Nun, da das Album fertig sei, wolle er erst einmal zurück nach New York.

Er freue sich nach Hause zu kommen, Zeit mit Freunden zu verbringen und „einfach zu ‚sein‘“.

Und man ist kurz versucht an Kalendersprüche á la „Es sind die einfachen Dinge im Leben...“ zu denken und ihnen nicht weiter die Sinnhaftigkeit abzusprechen.

 

Zwölf Jahre nach diesem Interview, im Jahr 2009, geht es mir schlecht, ich bin mit achtzehn Jahren selbst psychisch erkrankt.

Zukunftsprognose: ungewiss.

Noch in der Klinik tausche ich Musik mit manchen Pflegern.

Auf einem der USB-Sticks stoße ich auf einmal auf „Black Celebration“, das Depeche-Mode-Album, das einst mit dreizehn meinen Einstieg in ihre Diskographie markierte.

Auch die nächsten Jahre wird mich ihre Musik begleiten.

2013 gehe ich sogar auf eines ihrer Konzerte im Berliner Olympiastadion.

Denke ich an Gahan, so denke ich ans Leben.

Irgendwann kam dann auch noch der Krebs für ihn dazu.

Auch ihn besiegte er souverän.

Und mich beschleicht das Gefühl, dass uns heute mehr verbindet als bloß die Musik.




 
 
 
  • 24. Feb. 2024
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. März 2024

Neulich passierte etwas, das bei mir eher selten vorkommt: ich verliebte mich in ein Stück Musik.

Ursprünglich vor allem vom Jazz und Hip-Hop kommend, habe ich die Klassik so richtig erst in meinen Mittzwanzigern mitbekommen.

Ich kann immer noch mit Mühe drei Komponisten aufzählen und bin bei weitem nicht in der Lage, zwischen den verschiedenen Gattungen (Romantik, Barock usw.) zu unterscheiden, aber ich kann mich inzwischen als Zuhörer während klassischer Konzerte in der Musik verlieren.

 

Alles begann in kalten Zehlendorfer Winternächten.

Ich hatte über ein soziales Netzwerk die Einladung zu einem „Salon“ bei „Madame A.“ erhalten. Die Gruppe bei „MeetUp“ nannte sich „Berlin Art Lovers“.

Ich stellte mir damals vor, dass man sich bei Aperitif und leichten Snacks in einer Dahlemer Altbauwohnung zum Philosophieren über Werke von Duchamp bis Rothko oder Richter treffen wolle, und fand das anregend.

Zum damaligen Zeitpunkt allerdings auch leicht soziophob (lange her!), machte ich zur Konsolidierung dieses Vorhabens erst einmal einen ausgedehnten Nachmittagsschlaf, aus dem ich zu spät erwachte.

Ich entschied mich für den Abend und notgedrungen auch gleich für ein Taxi.

Bei „Madame A.“ angekommen, erwartete mich entgegen meiner Vorstellung ein einstöckiges Einfamilienhäuschen, direkt neben meiner alten Schule.

Die nicht wenigen Gäste drängten sich in der Garderobe und verstellten Neuankömmlingen den Platz, während „Madame A.s“ Katze ihnen um die Beine strich.

Nachdem ich meine Winterjacke aufgehängt und mich ins Wohnzimmer vorgekämpft hatte, blickte ich auf einen schwarzen Flügel und gut zwei Dutzend ebenfalls schwarze Klappstühle.

So fing sie an, meine Verbindung zur Klassik.

„Madame A.“, deren vollständigen Namen ich später erfahren sollte, mich jedoch hüte, hier öffentlich zu erwähnen, lud regelmäßig Musikstudenten, die sich für ein Erasmus-Jahr in die Stadt verirrt hatten, oder Profis zu sich nach Hause ein.

Die Engagements beruhten auf den freiwilligen Spenden ihrer Gäste - und ihrer guten Reputation.

Um den intimen Rahmen nicht zu sprengen, war Diskretion oberstes Gebot.

Für kommende Veranstaltungen konnte man sich auf einer E-Mail-Liste eintragen, musste sich jedoch zusätzlich jedes Mal vorher anmelden.

Nach dem Konzert und manchmal auch während der Pause gab es einen außerordentlichen Riesling vom Weingut „Hensel“ sowie selbstgemachte Canapés.

Ich kam so oft wieder, wie ich konnte. Manchmal in Begleitung.

Dann kam Corona und die Tatsache, dass „Madame A.“ ausziehen musste und sich so schnell kein geeigneter Wohnraum für eine Fortführung der Abende finden ließ, was sie – und vor allem wir stillen Zuhörer – so gehofft hatten.

So verschwand sie ebenso beiläufig, wie sie in mein Leben getreten war.

Etwa zwei Jahre später sahen wir uns noch einmal durch Zufall in der Berliner S-Bahn wieder.

Ich vermisste die Konzerte und hatte ihr deshalb nach den letzten Ereignissen ein oder zwei E-Mails geschrieben.

Wir erkannten uns wieder und sie umarmte mich kurz, was lächerlich wirkte, weil sie mehr als zwei Köpfe größer war.

 

Die Abende gingen, aber mein Gefallen an klassischer Musik blieb fortan bestehen.

Wenn sich die Gelegenheit ergibt, verirre ich mich auch heute noch in die Philharmonie, neulich kaufte ich Dvořáks Symphonie "Aus der neuen Welt“ als Schallplatte.

Durch eine Episode des wunderbaren „Zeit“-Interview-Podcasts „Und was machst Du am Wochenende?“, die bereits vor gut einem Jahr erschien, wurde ich auf eine Musikrichtung aufmerksam, die ich mindestens ebenso lange vernachlässigt hatte wie damals die Klassik: Ambient!

Ich gestehe, dass ich mir, vielleicht streckenweise angelehnt an große schreibende Vorbilder von Thomas Mann bis Simenon, gerade eine eigene Routine fürs Schreiben aneigne.  

Dazu gehört neben manch anderem ganz sicher der richtige „Soundtrack“.

Während ich diesen ellenlangen Sermon über klassische Musik verfasste, habe ich das unglaublich gute (und im Podcast erwähnte) Album „Nachthorn“ von Maxime Denuc gehört.

Die damalige Podcast-Gastgeberin (heute mehr Autorin) war, wie ich später auch, begeistert von seinen Orgelklängen, für die er eine Kirchenorgel umgebaut und an einen MIDI-Controller angeschlossen hat (sodass zum Beispiel auch „Loops“ möglich sind).

Das Ergebnis oszilliert irgendwo zwischen Klassik und Ambient und eignet sich ebenso zum Schreiben wie zum Einschlafen (been there, done that).  

Falls ich es nicht mehr schaffe, das Album bei einem der großen Streaminganbieter zu verlinken, bitte ich um Nachsicht und den geneigten Leser, den Titel selbst in die Suchleiste zu kopieren.

 

Viel Spaß mit diesen hypnotischen Klängen und überhaupt ein musikalisches Wochenende!

 
 
 

lieben + arbeiten

©2023 von lieben + arbeiten. Erstellt mit Wix.com

bottom of page